zurück
07.12.2022

Mit dem Motor zum System

Als ›Ingenieur mit Portemonnaie‹, so seine Selbstbeschreibung, arbeitet Martin Urban an wirtschaftlichen Lösungen für ein klimaneutrales Energiesystem. Entscheidend sind für den Entwicklungschef von Rolls-Royce Power Systems nicht einzelne Komponenten, sondern der Blick aufs System.

Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Dirk Lässig

Geht doch!

Immer Sonntag abends ist Bastelstunde. Der Vater, Geisteswissenschaftler mit handwerklichem Geschick, teilt seine Passion für den Modellflugzeugbau mit Martin Urban und dessen Geschwistern. Zwölf Jahre ist der Junge alt, als er sein erstes eigenes Flugzeug baut – nicht aus einem Bausatz, sondern anhand einer Konstruktionszeichnung. »Es gab schon Momente der Frustration, wenn nicht alles gleich so funktioniert hat, wie es sollte«, erinnert sich Urban heute. »Aber das hat mich nicht davon abgehalten, immer wieder etwas Neues auszuprobieren.« Das erste Modell fliegt mit einem kleinen Einzylinder- Verbrennungsmotor. Später rüstet er auf einen Elektroantrieb um und merkt: Das geht auch, aber der Akku hält nicht lange. Wenn Urban als Jugendlicher gefragt wird, was er später machen will, antwortet er: »Ich will Flugzeuge bauen.«

So wundert es kaum, dass Urban in Aachen Luft- und Raumfahrttechnik studiert und sich für die Vertiefung anspruchsvolle Fächer aussucht: Drehflügler und Flugantriebe. Neben dem Hauptstudium arbeitet er als Praktikant und Werkstudent im Flugversuch bei der DASA am Standort Manching. Urban lernt nicht nur Fachliches, sondern auch einen persönlichen Energieerhaltungssatz: »Ich kann sehr viel Energie in eine Sache hineinstecken, wenn ich dann mindestens so viel wieder herausbekomme«. Und so schließt Urban sein Studium trotz des Nebenjobs fast in der Regelstudienzeit ab.

Wenn wir als Ingenieure technische Lösungen entwickeln, müssen die für die Gesellschaft einen volkswirtschaftlichen Wert haben.

Dass ihn sein Weg dann doch nicht in den Flugzeugbau führt, sondern zur stationären Gasturbine, ist einer Verkettung verschiedener Umstände geschuldet – vor allem aber der Tatsache, dass Urban sich in sehr unterschiedlichen Positionen bei Siemens, seinem ersten Arbeitgeber nach dem Studium, bewährt. Nach zwei Jahren als Versuchsingenieur am Standort Mülheim darf er in die Welt hinaus und Messungen an Kundenanlagen vornehmen. Im Jahr 2000 folgt ein erster Ritterschlag: Urban bekommt die Verantwortung 42 Menschen für den großen Gasturbinen-Prüfstand in Berlin. An dem mitten im Stadtteil Moabit errichteten Traditionsstandort unterstützt Urban den Elektrokonzern dabei, eine Gasturbine mit dem damals weltweit höchsten Wirkungsgrad von 43 Prozent zu entwickeln. Doch die Energiewelt verändert sich rasch, es werden verstärkt Gas-und-Dampf- Kraftwerke gebaut. Dabei zählt der Systemwirkungsgrad mehr als der absolute Bestwert für die Gasturbine. Um den Systemwirkungsgrad zu steigern, sind höhere Abgastemperaturen notwendig – und damit ein neues Brennverfahren. Ein solches entwickelt Urban ab 2003 mit einem Team in Orlando, Florida. Einige Jahre zuvor hat Siemens das nichtatomare Kraftwerkgeschäft von Westinghouse zugekauft, nun gilt es, gemeinsame technische Standards zu entwickeln.

Als Urban 2006 die Verantwortung für die Produktlinien-Entwicklung der Siemens-Gasturbinen übernimmt, beginnt die Arbeit am Gas-und- Dampfkraftwerk Irsching, das ab der Inbetriebnahme bis 2016 den Wirkungsgrad-Weltrekord hält. Dementsprechend niedrig sind die CO2-Emissionen pro Kilowattstunde. Allerdings kommt das Kraftwerk schon nach kurzer Zeit durch das Strommarktdesign nur noch auf wenige Volllaststunden. Als ›Ingenieur mit Portemonnaie‹, wie er sich selbst bezeichnet, schaut Urban nüchternanalytisch in die Vergangenheit und versucht, daraus für die Zukunft zu lernen. »Wenn wir als Ingenieure technische Lösungen entwickeln, müssen die für die Gesellschaft einen volkswirtschaftlichen Wert haben.«

Nach weiteren Stationen übernimmt Urban 2014 die Entwicklungsverantwortung für den noch jungen Siemens- Geschäftszweig ›Distributed Power Generation‹, der auf kleine, verteilte Stromerzeugungsanlagen setzt. Im Zentrum einer solchen Anlage steht noch immer eine Gasturbine, mit maximal 65 Megawatt. Allerdings erkennt Urban sofort: »Einzelkomponenten zählen in einem solchen Geschäft nicht. Es kommt immer auf die Systemperformance an.«

Drei Jahre später klopft Andreas Schell, dessen Amtszeit als Vorstandsvorsitzender von Rolls-Royce Power Systems gerade begonnen hat, bei Urban an – und der übernimmt die Verantwortung für die Systementwicklung. »Das war eine Zeit, in der noch nicht für alle erkennbar war, mit welcher Wucht der Wandel kommen würde. Wir konnten vorarbeiten und haben uns damit in eine Situation gebracht, in der unser Kunde heute die Wahl hat.« Das gewachsene Spektrum des Anbieters, der für seine Produkte nach wie vor das Logo der Motoren- und Turbinenunion nutzt, verdeutlicht ein ›Validation Center‹, das ein Gesamtsystem aus den neuen Produkten realistisch und anschaulich nachbildet. Es besteht aus einem Batteriespeicher, der den auf den Dächern der Fabrik erzeugten Solarstrom speichert, einem Stromerzeugungsmodul, in dem vier Brennstoffzellen zum Einsatz kommen und der kompletten Automatisierung für dieses Micro Grid. Außerdem sind Blockheizkraftwerke und Diesel-Gensets eingebunden. Ein Modul mit einem Wasserstoff- Verbrennungsmotor ist während des Besuchs kurz vor Fertigstellung, später soll auch ein Elektrolysemodul hinzukommen, das die Technik des Start-ups Hoeller aus Wismar nutzt, an dem Rolls-Royce Power Systems sich gerade zu 51 Prozent beteiligt hat.

Der Verbrennungsmotor, das macht Urban klar, ist dabei nicht nur aktuell der wichtigste Umsatzträger, sondern wird auch künftig eine wichtige Rolle behalten. »Das ist der Kern unseres Geschäfts.«

Mit dem Motor-Know-how haben wir dem Kunden bewiesen, dass wir sein Vertrauen Wert sind.« Mit dem Motor zum System – das ist auch die Botschaft, die Urban in die Mannschaft trägt, in der sich klassische Motorenentwickler zunehmend mit den Mitarbeitern zugekaufter Startups mischen. Die unterschiedlichen Kulturen sind Urban zufolge vor allem durch eins zu überwinden: gemeinsame Arbeit, teilweise forciert dadurch, dass Projektteams auch physisch in gemeinsame Räume ziehen. Der Austausch ist neben wissenschaftlichen Ergebnissen für Urban auch der größte Wert, den die FVV generieren kann. »Es sind so viele Fragen offen, beispielsweise dazu, welche Kombinationen aus Energiewandlern und Energieträgern für welche Anwendungen sinnvoll sind. Die FVV ist ein wichtiges Forum, um solche Fragen wissenschaftlich fundiert zu besprechen.«

Was den Modellflugzeugbau betrifft, ist die Frage nach dem idealen Antrieb ebenfalls weiterhin offen. Martin Urban bastelt mittlerweile wieder regelmäßig mit seinem 13-jährigen Patensohn.

Martin Urban, Jahrgang 1971, studierte Luft und Raumfahrttechnik an der RWTH Aachen.

Nach seinem Diplom stieg er gleichwohl bei Siemens ein und absolvierte in 21 Jahren eine Karriere, in der er zuletzt die Entwicklungsverantwortung für das Geschäft mit verteilter Energieerzeugung hatte. 2017 folgte der Wechsel zu Rolls-Royce Power Systems. Seit Januar 2022 ist er für die komplette Entwicklung des Anbieters von Antriebs- und Energielösungen verantwortlich. Martin Urban engagiert sich ehrenamtlich als Mitglied des Vorstandes in der FVV.