Weichen stellen
Der Luft- und Raumfahrtwissenschaftler Dr. Dirk Hilberg hätte fast in einer Spedition Karriere gemacht. Nun organisiert er Forschung an Zukunftstechnologien, für seinen Arbeitgeber Rolls-Royce wie in der FVV. Er ist davon überzeugt: Den einen Weg gibt es nicht. Doch irgendwann muss man Entscheidungen treffen.
Der Einzelne gerät relativ schnell an Grenzen // Was in vielen Lebensbereichen gilt, bewahrheitet sich für engagierte Modellbahner rasch, wenn das eigene Heim zu klein für die geplante Anlage wird. Deshalb treffen sich seit den 1980er-Jahren Menschen aus zehn europäischen Ländern, Männer vor allem, die zueinander passende Module entwickelt haben. Sie verschalten die Module zu einer einzigen Anlage, bis zu 12.000 Quadratmeter groß, und spielen dann nach vorab vereinbarten Fahrplänen einen realitätsnahen Bahnbetrieb durch. Einer von ihnen ist Dirk Hilberg, im Hauptberuf Technologiemanager für Rolls-Royce. Seine Liebe zur Eisenbahn geht in die frühe Kindheit zurück. Schon im Kinderwagen verlangt er regelmäßig von der Mutter, an einen Bahnübergang geschoben zu werden, um Züge zu beobachten. »Ich bin noch heute begeisterter Hobby-Eisenbahner« , gesteht Hilberg. Für den Triebswerksbau hat er sich trotzdem bewusst entschieden.
Als Sechzehnjähriger, Mathe und Physik sind längst die Lieblingsfächer, ist Hilberg klar: »Ich will Ingenieur werden.« An dem Beruf fasziniert ihn bis heute, dass er das Bindeglied zwischen der wissenschaftlichen und der praktischen Welt darstellt. Als die Entscheidung für einen konkreten Studiengang ansteht, wählt Hilberg Luft- und Raumfahrttechnik, eine Disziplin, die in den Jahren nach der Mondlandung als Synonym für technischen Fortschritt steht wie keine andere. »Mir war intuitiv klar, dass hier die spannendsten Aufgaben auf Ingenieure warten«, sagt er. »Und im Prinzip gilt das bis heute.«
1980 bieten nur wenige Universitäten in Deutschland den Studiengang an. Hilberg entscheidet sich für die TU Berlin, mit dem ihm willkommenen Nebeneffekt, dass Einwohner Westberlins nicht für den Wehrdienst herangezogen werden. Ein Studentenzimmer in einem Hinterhof, Kohleheizung, das Bad auf dem Flur und eine große, anonym erscheinende Universität – den wohl behütet in Marburg aufgewachsenen Hilberg schockiert die Großstadt zunächst geradezu. Der Einstieg in das Studium fällt ihm schwer, Hilberg sucht sich einen Nebenjob bei einer kleinen Spedition, zunächst als Fahrer. Später steigt er gar zum Leiter der Berliner Niederlassung auf, arbeitet 40 bis 50 Stunden in der Woche, verdient relativ gut, kommt aber im Studiengang kaum voran.
Erst nach Jahren folgt der Moment, in dem Hilberg weiß: Er muss jetzt Weichen stellen. Er kündigt den Job und absolviert das komplette Hauptstudium inklusive Diplomarbeit am Triebwerksinstitut innerhalb von vier Semestern. Ein Angebot von Lufthansa Technik schlägt er aus, stattdessen tritt er eine Promotionsstelle an der TU Berlin an. Hilberg beschäftigt sich mit turbulenten Strömungen, analysiert Strukturen und entwickelt Berechnungsmethoden. Wissenschaftliche Grundlagenforschung, die ihm 1994 ein Post-Doc-Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Stony-Brook-Universität ermöglicht und dann an die TU Berlin zurückführt.
Der südlich von Berlin gelegene Standort Dahlewitz nahm vor 25 Jahren im Juni 1995 die Produktion auf. Als Kompetenzzentrum für Geschäftsreise-Flugzeugantriebe spielt das Werk eine wichtige Rolle im globalen Netzwerk aus Fertigungs- und Entwicklungsstandorten von Rolls-Royce.
Währenddessen hatte Rolls-Royce, zunächst noch in Zusammenarbeit mit BMW, vor den Toren Berlins mit der Entwicklung von Triebwerken für Geschäftsflugzeuge begonnen. 1997 arbeiten bereits fast 1.000 Menschen an dem Standort in Dahlewitz. Hilberg, mittlerweile verheiratet und Vater zweier Kinder, zweifelt an den Aussichten einer akademischen Karriere und startet als Entwicklungsingenieur für Luftsysteme. »Ich war gleich mittendrin in der Entwicklung der Baureihe BR715«, erinnert sich der Ingenieur.
Die Umstellung vom akademischen Milieu in die Praxis fällt ihm nicht schwer. »Die Verantwortung für ein sicherheitskritisches Produkt und damit letztlich für Menschenleben zu haben, ist täglicher Ansporn und bereitet mindestens so viel Freude wie akademische Auszeichnungen«, sagt Hilberg. Auch das wirtschaftliche Denken, einst in der Spedition erlernt, bewährt sich jetzt wieder. Der vermeintliche Umweg war gar keiner, sondern ein gutes Training für die folgenden Positionen, als Programmmanager für das Kerntriebwerk genauso wie für das Forschungs- und Technologiemanagement, für das er ab 2018 verantwortlich ist.
Die Forschungsvereinigung lernt Hilberg schon kurz nach seinem Einstieg bei Rolls-Royce als Mitglied eines Arbeitskreises kennen. Schon bei der ersten Sitzung ist er vom hohen akademischen Niveau positiv überrascht – und engagiert sich seither. Als Stellvertretender Leiter des Wissenschaftlichen Beirats der FVV ist er mittlerweile für die grundsätzliche Ausrichtung der Gemeinschaftsforschung an Turbomaschinen verantwortlich. Dass dabei ganz unterschiedliche Strömungsmaschinen, vom kleinen Abgasturbolader über Flugturbinen bis hin zu großen stationären Gasturbinen, in einer Planungsgruppe verbunden sind, hält er für einen Vorteil. »Wir befruchten uns gegenseitig. Strömungsmechanik oder Grundlagen der Werkstofftechnik sind schließlich nicht von der Größe einer Maschine abhängig.«
Der Einsatz von Wasserstoff als Brenn- beziehungsweise Treibstoff bietet Hilberg zufolge ebenfalls hohes Synergiepotenzial – über die Turbinen hinweg sogar zur Motorenforschung der FVV. »Es ist unser aller Aufgabe, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Dafür benötigen wir in bestimmten Anwendungen unbedingt chemische Energiespeicher wie Wasserstoff und strombasierte Kraftstoffe.« Doch dafür benötigt es übergreifender Zusammenarbeit, schließlich muss ein komplettes, auf fossilen Energieträgern basierendes System umgebaut werden. Der Einzelne gerät dabei schon in der Forschung relativ schnell an Grenzen.
Dr.-Ing. Dirk Hilberg, Jahrgang 1960, ist als Senior Manager Research & Technology bei Rolls-Royce Deutschland für unternehmensübergreifende Forschungsprogramme verantwortlich. Der an der TU Berlin promovierte Ingenieur arbeitet seit 1997 in verschiedenen Positionen für den Triebwerkhersteller.
In der FVV ist er als Stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats und als Leiter der Planungsgruppe PGT »Turbomaschinen« ehrenamtlich tätig.